„Der Zweite Anschlag“ – Auftaktveranstaltung der Veranstaltungsreihe „Erinnern heißt Handeln“ zur rechten Gewalt in den 1990ern

2020 Zweiter AnschlagDie Veranstaltung „Der Zweite Anschlag“ am 21.11.2019 war der Auftakt für die laufende Vortragsreihe „Erinnern heißt Handeln“ des Erinnerungsortes Alter Schlachthof. Die Veranstaltungsreihe setzt sich zwischen November und April nächsten Jahres in Film, Vorträgen und Diskussionen mit rechter Gewalt in den 1990ern auseinander. Im Mittelpunkt der Reihe steht die Perspektive der Menschen, die selbst bzw. ihre Angehörigen von rassistischer Gewalt betroffen waren.

Die „rechte Gewalt in den 90ern“ meint hierbei das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992, die Brandanschläge in Mölln 1992 und Solingen 1993 sowie die neun NSU-Morde in den Jahren 2000 bis 2006, die gegen Menschen mit Migrationshintergrund gerichtet waren und insgesamt 17 Leben forderten und viele weitere Menschen schwer verletzten.

Das Grußwort der Veranstaltung sprach Prof. Dr. Fabian Virchow, Leiter des Forschungsschwerpunktes Rechtsextremismus und Neonazismus (FORENA). Er thematisierte die ausbleibende Empörung und fehlende Diskussion der Öffentlichkeit über den rechtsextremistischen Anschlag in Halle und die hohe Opferzahl von rechter Gewalt.

Danach begrüßte Carla Raul vom Allgemeinem Studierendenausschuss (AStA) und Sprecherin für das Referat „People of Colour“ die ca. 100 Gäste. Sie erklärte, das PoC-Referat widme sich der Aufgabe, direkten und auch indirekten Rassismus zu enttabuisieren.

Birgül Demirtaş, die die Auftaktveranstaltung mit Sabine Reimann und Adelheid Schmitz organisiert hatte, erläuterte in ihrer Rede das Ziel der Veranstaltungsreihe. Ihr sei wichtig, die „Perspektiven und Stimmen der Betroffenen von rechter Gewalt sichtbar und hörbar zu machen“. Dafür müsse man den „toxischen“ Umgang mit rechten Gewalttaten, wie ‚victim blaming‘ und das (Tot-)Schweigen des eklatanten Rassismus benennen und öffentlich diskutieren. Ihr Anliegen sei die Sensibilisierung der Gesamtgesellschaft für die „vergessenen“ Opfer. Die Veranstaltung sei Erinnerung und Mahnung zugleich, nicht länger über, sondern mit Betroffenen von rechter Gewalt zu reden. Es gehe zunächst darum, die bisherigen Informations- und Erinnerungslücken zu füllen und dabei auch die Frage zu diskutieren, wer überhaupt das Recht habe zu vergessen.

Der anschließend gezeigte Dokumentarfilm „Der Zweite Anschlag“ von Mala Reinhardt und Patrick Lohse bringt die traumatischen Erfahrungen der Protagonist*innen, die selbst rassistische Gewalt erlebt hatten bzw. deren Angehörige getötet worden waren in Interviews zum Ausdruck.

Die Betroffenen erzählten ihre Geschichten und wie das jeweilige Verbrechen sie verändert hat.
Osman Taşköprü verlor seinen Bruder Süleyman, der 2001 in Hamburg vom NSU ermordet wurde. Ibrahim Arslan erinnert sich an den rassistischen Brandanschlag von Mölln 1992, den er selbst nur knapp überlebte und Mai Phu‘o‘ng Kollath wohnte selbst in Rostock-Lichtenhagen, als dort unter dem Beifall hunderter Anwesenden das Hochhaus von Neonazis in Brand gesteckt wurde.

Im Film wird auch deutlich, warum die Veranstaltung den Titel „der Zweite Anschlag“ trägt. In einer Interviewsequenz erklärt Ibrahim Arslan, die eigentliche Gewalttat sei der „erste“ Anschlag und kaum zu verhindern gewesen. Der „Zweite viel schlimmere Anschlag“ sei dann die fehlende Empörung, Ermittlungen gegen die Opfer und ihre Angehörigen, ungenügende Aufarbeitung und Unterstützung von Seiten des Staates und der Öffentlichkeit. Die Interviews waren eingebettet in einen historischen Rückblick, der die psychosozialen Auswirkungen der Anschläge auf die betroffenen Menschen zeigte, aber auch ihre Versuche, damit umzugehen, sich untereinander zu solidarisieren. Dabei wurde auch deutlich, wie wichtig für die Betroffenen solidarische Demonstrationen gegen rassistische Gewalt direkt nach den Anschlägen waren. Mit selbst organisierten Demonstrationen wie z.B. die in Frankfurt unter dem Motto „Kein 10. Opfer“, eigenen Gedenk- und Infoveranstaltungen sowie dem bundesweiten NSU-Tribunal in Köln meldeten sich die Betroffenen zu Wort und schufen so Öffentlichkeit für ihre Interessen und Bedürfnisse.

Nach dem Film betonte die Stellvertretende Vorsitzende des Landesintegrationsrates Ksenija Sakelšek, dass dieses Thema dem Landesintegrationsrat als Kooperationspartner der Veranstaltung sehr wichtig sei.

Bei der darauffolgenden Podiumsdiskussion mit der Regisseurin Mala Reinhardt, dem Kameramann Patrick Lohse, Mai Phu‘o‘ng Kollath, die den Anschlag im Hochhaus in Rostock-Lichtenhagen miterlebte sowie Merfin Demir (Gesellschaft für Antiziganismusforschung e. V.) ging die Moderatorin Birgül Demirtaş vor allem auf die Perspektive der Betroffenen ein. Parallel dazu wurden im Hintergrund Fotos und Zitate gezeigt, die von der rechten Gewalt in den 90ern handelten.
Zentrale Themen der Podiumsdiskussion waren die Fragen „Wie geht man mit den Betroffenen um?“ und „Wie schaffen wir Möglichkeiten, den Betroffenen ein Forum zu bieten, ihnen Gehör zu verschaffen, ihnen eine Stimme zu geben?“

Bei der Diskussion dieser Fragen wurde deutlich, dass in den Medien und öffentlichen Diskursen die Geschehnisse vor allem aus der „Weißen Dominanzperspektive“ heraus dargestellt wurden und werden. Die Betroffenen erleben diese oft als ignorant gegenüber ihren traumatischen Erlebnissen, oder überhaupt als Wahrnehmung als Opfer oder Betroffene, wie die Gedenkveranstaltungen zeigen, die von den Städten organisiert wurden, ohne die Betroffenen zu fragen oder einzuladen, etwa in Mölln oder auch Rostock-Lichtenhagen. Die Betroffenen organisieren selbst auch Gedenkveranstaltungen, zum Teil auch in anderen Städten wie z.B. die „Möllner Rede im Exil“.
Ein weiterer Gegenstand der Podiumsdiskussion war die antiziganistische Dimension des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen, da Sinti und aber vor allem Roma die eigentliche Zielgruppe des Pogroms waren. Dieser Umstand wurde aber in der Berichterstattung und der öffentlichen Diskussion über die dadurch ausgelöste Änderung des Asylrechts oft unterbelichtet bzw. ganz ausgelassen. Hier gibt es noch weiteren Forschungs- und Diskussionsbedarf.

 

Diesen Bericht verfasste Meike Lehmann, die seit September 2019 ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Hochschulbibliothek und am Erinnerungsort Alter Schlachthof absolviert.

 

 

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