„Erinnerung als aktive Arbeit für Gegenwart und Zukunft“. Bericht über eine Studienfahrt nach Minsk (Nov./Dez. 2016)

04 Mahnmal JamaVom 26.11. bis 3.12.2016 unternahmen VertreterInnen der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, der NS-Dokumentation Vogelsang und des Erinnerungsortes Alter Schlachthof gemeinsam mit Prof. Dr. Beate Fieseler und Prof. Dr. Guido Thiemeyer (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) und 20 Studierenden eine Studienfahrt nach Minsk. Im Rahmen dieses von der Abt. für Geschichte und Kulturen Osteuropas am Institut für Geschichtswissenschaften der Universität organisierten, vom DAAD geförderten Projektes mit der 1991 gegründeten Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ in Minsk hatten bereits im Oktober belorussische, in der Bildungsarbeit tätige KollegInnen die genannten Einrichtungen besucht. Die Reisegruppe besichtigte verschiedene historischen Orte und Stätten, die an das Leiden der belorussischen Bevölkerung während der nazistischen Besatzung erinnern. Wesentliches Ziel der Reise war neben dem Kennenlernen dieser historischen Orte der Dialog mit VertreterInnen verschiedener Organisationen der belorussischen Zivilgesellschaft und die Auseinandersetzung mit der sich seit 1991 langsam wandelnden Erinnerungskultur in Belarus.

Für den Erinnerungsort Alter Schlachthof hat die Stadt Minsk eine besondere Bedeutung: Vor 75 Jahren, am 10. November 1941, wurden über den Schlachthof 993 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Düsseldorf und Umgebung nach Minsk deportiert und in das dortige Ghetto gesperrt (nur fünf von ihnen überlebten das Kriegsende). Kurz zuvor hatte die SS etwa 14.000 sowjetische Juden ermordet, um Platz zu schaffen für aus dem Reichsgebiet nach Minsk deportierten Menschen. Die Lebensbedingungen im Ghetto waren katastrophal. Ohne ausreichende Ernährung, unter der Willkür- und Terrorherrschaft der SS mussten die Menschen Zwangsarbeit leisten, wer zu schwach war, wurde „selektiert“ und ermordet. Die erste „Aktion“ der SS im März 1942, der 5.000 Menschen zum Opfer fielen, fand noch im Ghetto selbst statt – an der „Jama“ (Grube) am nord-westlichen Rand des Ghettos gelegen. Nach dem Krieg wurde an dieser Stelle ein kleiner Obelisk errichtet, lange Jahre das einzige Mahnmal für die ermordete jüdische Bevölkerung.

Ab dem Frühjahr/Sommer 1942 verlegte die SS ihre Mordaktionen in das 12 km vom Stadtzentrum Minsk entfernte SS-Gut Maly Trostinec. Die ehemalige Kolchose, die die SS in ein großes Konzentrations- und Zwangsarbeitslager umfunktioniert hatte, war das größte auf dem besetzten sowjetischen Territorium überhaupt. Dort und in einem nahe gelegenen Waldstück, der „Blagowschtschina“, wurden systematisch Zehntausende Menschen ermordet: sowjetische Kriegsgefangene, WiderstandskämpferInnen, „Partisanenverdächtige“ und Juden aus dem Minsker Ghetto – darunter Tausende deutscher und österreichischer Juden. Die Gesamtzahl der an diesen Orten ermordeten Menschen ist umstritten und schwankt zwischen 60.000 und 200.000 Menschen. Die genaue Zahl wird sich nie bestimmen lassen, weil die Mörder keine Listen führten und alles daran setzten, sämtliche Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen.

Deutlichstes Kennzeichen der Wandlung der belorussischen Erinnerungskultur seit dem Ende der Sowjetunion ist die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, der vor 1991 ein tabuisiertes Thema war. Maßgeblichen Anteil hieran trägt die vom IBB getragene Geschichtswerkstatt, die am authentischen Ort, am Rande des ehemaligen Ghettos gelegen, den Holocaust in Belorussland und insbesondere die Geschichte des Ghettos erforscht und dokumentiert. Auch Biographien der aus Deutschland und Österreich deportierten Juden werden in einem Online-Archiv präsentiert. Wichtiger Bestandteil der Arbeit der Geschichtswerkstatt ist die Arbeit mit den letzten überlebenden Zeitzeugen. So hatte die Besuchergruppe die Gelegenheit, einen der letzten Überlebenden des Ghettos kennenzulernen, der über sein Leben im Ghetto, aber auch in der Nachkriegszeit berichtete. Der Sammlung von Berichten Überlebender widmen sich auch mit dem IBB vernetzte KollegInnen. Im „Belarussischen Archiv mündlicher Geschichte“ werden diese Berichte der Öffentlichkeit via Internet zugänglich gemacht. Heute leben nur noch wenige Juden in Minsk, wie die BesucherInnen in der Geschichtswerkstatt und bei einem bewegenden Besuch eines Gottesdienstes der „progressiven Juden“ in Minsk erfuhren. Viele emigrierten nach der Auflösung der Sowjetunion.

Maly Trostinec MahnmalDie gewandelte Erinnerungskultur spiegelt sich auch im Umgang mit dem Konzentrations- und Vernichtungslager Maly Trostinec und der Blagowschtschina wider. Seit den 1960er Jahren erinnerten ein schlichter Obelisk und eine Gedenktafel an die dort ermorden Menschen. Vor einigen Jahren brachten Angehörige zivilgesellschaftlicher Initiativen aus Deutschland und Österreich an den Bäumen der Blagowschtschina Namensschilder ermordeter Juden an, die das Schicksal der von dort deportierten Menschen dokumentieren. Die im Ort gelegene Schule bewahrt in einer kleinen Ausstellung und in einem Gedenkraum seit den 1970er Jahren das Andenken an die ermordeten Menschen – seit einigen Jahren auch explizit an die ermordete jüdische Bevölkerung. Im Jahr 2015 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Lagers eine weitläufige Gedenkanlage mit einem etwa 15 m hohen Mahnmal eingerichtet. Auf das Mahnmal zulaufend informieren Gedenksteine mit Inschriften über den riesigen Umfang der während des Krieges ermordeten Menschen. Die Pläne für den Ausbau der Anlage sind weit gediehen. So plant die Regierung, auch die Vernichtungsstätte Blagowschtschina in den gesamten Gedenkkomplex einzubeziehen. Die Gedenkanlage wird damit zu einem zentralen staatlichen Erinnerungsort an die Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Auch die Rolle der orthodoxen Kirche im belorussischen Staat spiegelt deutlich die gewandelte Erinnerungskultur wider, wie die Kirche Allerheiligen in Minsk eindrucksvoll zeigt. In der Gruft der Kirche befinden sich kunstvoll eingerichtete Vitrinen. In ihnen wird in kleinen Glasbehältnissen Erde aufbewahrt, die von den verschiedenen Orten Belorusslands und auch aus Deutschland stammt, wo belorussische Menschen zu Tode gekommen sind. Erinnert wird auch an ermordete sowjetische Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen – und damit Opfergruppen, die als angebliche „Verräter“ nicht in die sowjetische Erinnerungskultur einbezogen waren.

KhatynIn deutlichem Kontrast hierzu steht die in den 1960er Jahren errichtete Gedenkstätte „Chatyn“, etwa 50 km von Minsk entfernt. Mitten im Wald auf dem Areal des gleichnamigen damaligen Dorfes gelegen, erinnert sie an die Hunderten von Dörfern, die die Besatzer im Zuge der Partisanenbekämpfung bzw. bei ihrem Rückzug auslöschten. In die Höhe ragende Schornsteine und Häuser-Grundrisse auf dem Boden symbolisieren die vernichteten Bauernhäuser. Daneben eine riesige Gedenkanlage mit den Namen der Konzentrations- und Zwangsarbeiterlager und ihren jeweiligen Opferzahlen sowie eine überlebensgroße Skulptur eines alten Mannes, der seinen ermordeten Sohn auf den Armen trägt.

An das Leiden der Bevölkerung, vor allem aber an den heroischen Abwehrkampf gegen die deutschen Besatzer erinnert auch das gewaltige Museum des Großen Vaterländischen Kriegs in Minsk, das komplett umgebaut und neu gestaltet wurde und mit einer großen Militärparade 2014 eingeweiht wurde. Auch hier hat die gewandelte Erinnerungskultur Spuren hinterlassen. Anders als in der alten Ausstellung werden nun sowohl der Holocaust als auch der massenhafte Zwangsarbeitseinsatz von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten in Deutschland thematisiert. Im Vordergrund stehen allerdings nach wie vor die heroischen Taten der Roten Armee und der Partisanen. Vielfach ausgestellte Uniformen, Waffen, Panzer, Fahnen und Orden, metergroße Wandgemälde, Diaramen und nachgebaute Partisanenlager im Wald zeugen von einer im Vergleich zur deutschen ganz anderen Museumskultur und mögen für deutsche MuseumsbesucherInnen ungewohnt sein – sie dokumentieren zugleich, dass Sieger ihre Museen anders gestalten als Verlierer.

Autor: Joachim Schröder

Links:
IBB "Johannes Rau" Minsk: http://ibb-d.de/homepage/die-ibb-in-minsk/
Geschichstwerkstatt: http://gwminsk.com/de
Zeitzeugenarchiv: http://zeitzeugenarchiv.gwminsk.com/de
Belarussisches Archiv mündlicher Geschichte: http://www.nashapamiac.org/archive/home
 

Weitere Fotos

01 Gedenkstein Ghetto Gruppe

In den 1990er Jahren errichtete Mahnmale für die aus Deutschland und Österreich deportierten Juden auf dem Gelände des früheren jüdischen Friedhofs, am Rand des damaligen Ghettos in Minsk.

 

02 Gedenkstein Ghetto Allg

Zentrales Mahnmal für die im Ghetto ermordeten weißrussischen Juden – ebenfalls auf dem Gelände des ehemaligen Friedhofs. Es wurde von dem Holocaust-Überlebenden Leonid Lewin gestaltet.

 

03 Geschichtswerkstatt Minsk

Die Geschichtswerkstatt Leonid Lewin – eines der wenigen erhaltenen historischen Gebäude. Sie dokumentiert die Geschichte des Ghettos.


05 Maly Trosteniec

Mahnmal auf dem Gelände der Vernichtungsstätte Maly Trosteniec, etwa 12 km südlich vom Stadtzentrum Minsk gelegen.

 

06 Blagowtschina

Blagowschtschina ("Wäldchen"). Auf dieser Lichtung kamen die dem Tod geweihten Menschen an, bevor sie erschossen und verscharrt wurden. Nach dem Krieg fanden die Befreier in dem Waldstück 34 Massengräber.

 

07 Khatyn

Die 1969 errichtete Gedenkanlage „Chatyn“ befindet sich etwa 50 km von Minsk entfernt.

Museum

Im Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk

Alle Fotos (c) Joachim Schröder, Erinnerungsort